Island. Ich war einmal auf einer winzigen Insel, die in einem zauberhaften Fjord vor der Nordküste Islands liegt und in vielerlei Hinsicht besonders ist. Es gibt dort keine Ratten, keine Marder, keine Füchse, weil das Eiland einst eine Quarantänestation war und diese Tiere von der Insel verbannt wurden. Seither sind die Schneehühner dort die heimlichen Herrscher. Von überall her tönt ihr Rülpsen. Denn so klingt das Geräusch, das sie von sich geben.
Auch die einzige Inselkatze, die kurz zuvor verstorben war, hatte den Schneehühnern nie etwas getan, denn sie war stets angeleint gewesen. Auch an jenem Morgen, als ausgerechnet der Inselpfarrer sie ins Jenseits beförderte. Ihre Leine reichte nur ein kleines Stück bis auf die Hauptstraße und die Katze, die schon viele Jahre auf diesem sonst seelenruhigen Eiland lebte, konnte nicht ahnen, dass der Pfarrer an jenem Morgen verschlafen hatte und die Hauptstraße hinunterpeste, um noch die Fähre zum Festland zu bekommen…
Sonst passierte auf dieser Insel nicht viel. Es war dort so friedlich, dass der Miesmuschelzüchter meinte, alles, was man tun müsse, um Kinder gut aufwachsen zu lassen, sei: Sie rauszulassen, wenn sie drei Jahre alt sind und sie wieder rein zu holen, wenn sie 18 sind.
Auf der Insel lebte außerdem ein Mann namens Alli, der sieben Berufe hatte, mindestens. Er war: Traktorfahrer, Touristenführer, Clown, Kosmetikhersteller, Schauspieler, Theaterintendant und Schriftsteller. Er führte mich über die Insel, erzählte mir allerlei Geschichten und so manche seiner Theorien. »Rauchen«, sagte er zum Beispiel schmunzelnd, »ist gar nicht gesundheitsschädlich. Solange man zu jeder Zigarette einen Espresso trinkt!«
Eines Tages brachte Alli mich zu einer älteren Frau, die mit ihrem Mann in einem Haus nah am Meeresrand lebte. Sie hatte hellblaue, zartwässrige Augen, in denen sich Myriaden von Erinnerungen abzuspielen schienen. Als ich sie sah, dachte ich an Astrid Lindgren.
Wir tranken Kaffee und aßen Kekse und irgendwann erzählte sie von den Kindern, die in diesem Haus gelebt hatten. Vor unzähligen Jahren. Manchmal kamen sie noch vorbei, dann saßen sie oben an der Treppe, die von der Küche aus in den ersten Stock führte und ließen ihre Beine zwischen dem Geländer hindurch baumeln. Sie lächelte. Dann wurden ihre Augen traurig.
Manchmal sehe sie auch den Mann und seinen Sohn im Ruderboot, die hier auf dem Meer vor vielen Jahren an einem stürmischen Tag ertrunken waren. Sie habe eine Art siebten Sinn. Auch Kinder hätten ihn, weil sie noch offener seien für all das, was da sonst noch so sei in dieser Welt. Die Frau schien ihre Gabe zu mögen, auch wenn sie ihr hin und wieder Tränen in die Augen trieb. Es war, als wären die Geister der Vergangenheit für sie Mitmenschen wie alle anderen auch.
Nur manchmal, sagte sie, sei es etwas peinlich. Vor allem, wenn sie in Reykjavík sei. Einmal hatte sie sich auf der Straße stundenlang mit einer Frau unterhalten. Nur, um später von ihrem Mann zu hören, dass er niemanden gesehen habe. Die Frau guckte beschämt. Sie hatte nicht gemerkt, dass es ein Geist gewesen war.
Bevor ich die Insel verließ, schenkte mir Alli einen Stein. Einen Bergkristall. Er sagte, er würde mir beim Schreiben helfen. Heute liegt dieser Stein auf meinem Schreibtisch und erinnert mich daran, dass wir niemals wissen können, was in den Köpfen der Menschen um uns herum vor sich geht, wenn wir einander nicht voller Neuiger fragen.